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Zur Demokratieverteidigung in Frankfurt – Wir sind mehr

Eine Reportage von Pierre Schäfer

„Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“, so lautet das Motto, welchem sich auch unsere Schule verpflichtet hat. Dieser Grundsatz gerät allerdings durch nationale und internationale Einflüsse und Entwicklungen seit geraumer Zeit ins Wanken. Während schon vor einigen Jahren eine erste Welle des Hasses mit den ausländerfeindlichen Pegida-Demonstrationen aufkam, sind es nun Politiker, die mit der Teilnahme am Remigrations-Treffen mit Rechtsradikalen in Potsdam dafür gesorgt haben, dass viele unserer Schülerinnen und Schüler Angst haben wegen ihrer Herkunft oder ihrer politischen Orientierung zukünftig aus Deutschland ausgeschlossen zu werden. Überdies wurde damit bewiesen, dass konkrete, ideologische Pläne geschmiedet werden, die die Grundrechte unserer Bürgerinnen sowie Bürger und die gesamte Demokratie verachten und zerstören könnten. Aus diesen Gründen habe ich beschlossen, die Kundgebung zur Verteidigung der Demokratie in Frankfurt zu besuchen und dabei unsere SchoR-Fraktion zu repräsentieren. Welche Eindrücke ich auf meiner ersten Demonstration bekam und welche Lehren ich daraus schließe, ist im Folgenden zu lesen.

„Die Würde des Menschen ist antastbar.“ Das ist mal ein Statement, denke ich mir. Es steht auf dem Buch geschrieben, das mein Gegenüber im Zug auf der Fahrt nach Frankfurt liest. Ich erkenne einen Schriftzug der Autorin Ulrike Meinhof. Moment mal, der Name sagte mir doch was. Eine schnelle Google-Suche bestätigt meine Vermutung, sie war eine Linksaktivistin und teilweise auch Terroristin der RAF, eine Mörderin. Mir offenbart sich damit die Absicht der jungen Frau, sie ist politisch interessiert und will wohl ebenfalls zur Demonstration. Meine Aufmerksamkeit wurde geweckt, also sprach ich sie darauf an und sie erläuterte mir den Inhalt des Ganzen. Ihrer Schilderung nach beschreibt Meinhof die in Teilen fehlerhafte oder gar fehlende Aufarbeitung des Nationalsozialismus im politisch-juristischen System und der Bevölkerung sowie die daraus resultierende Schwächung des Systems. Dieser Rückschluss leuchtet mir ein. Trotzdem war sie wohl wirklich keine Heldin der Demorkratie. Demokratie. Gutes Stichwort. Vielleicht sollte ich kurz erläutern, welche Gefahren ihr gegenüberstehen, standen und stehen könnten. Dabei hilft ein Blick in die Vergangenheit. Die Hebel zum Aushebeln der Demokratie wie die Notstandsgesetze der NSDAP sind größtenteils eingeschränkt oder komplett gestrichen. Dennoch gibt es gefährlich konkrete Einflussmöglichkeiten, unter anderem die Besetzung der Richter des Bundesverfassungsgerichts, wozu nur eine einfache Mehrheit benötigt wird. Es bräuchte lediglich eine Zusammenarbeit mit einer weiteren Partei, um Gesetzesverabschiedungen entscheidend zu beeinflussen. Damit hätte man eine demokratische Legitimation, die an sich effektiv gegen die Demokratie arbeitet. Doch braucht man diese wirklich? Aus dem Griechischen, der Sprache des Mutterlandes der Demokratie, übersetzt heißt sie „Volksherrschaft“. Schafft es eine Partei oder eine Führungspersönlichkeit, die der Demokratie feindlich gegenübersteht, eine absolute Mehrheit in der Bevölkerung unabhängig von Wahlen, sondern lediglich ideologisch für sich zu gewinnen, sind die Demokratie, unser Recht und unsere Werte ausgehebelt. Doch zurück zum politischen Austausch, als würden wir Brot für Zigarren tauschen. Nach einem längeren Gespräch und einem gegenseitigen Liebesgeständnis zu Gregor Gysi erreichen wir die Endstation, ironischerweise die Hauptstadt des großen Geldes und der Banken im Herzen von Europa. Von den inspirierenden Worten aus dem Gespräch angesteckt spiele ich mir mit meinen Kopfhörern einen Punk-Song aufs Ohr.

„Ich frag mich, warum so viele Leute weg schaun
Ist es Angst, Akzeptanz oder Ignoranz?
Ich wag es, denn je mehr Leute sich trauen
Sich quer zustellen desto stärker ist der Widerstand“

Mit diesen Worten auf den Ohren verlasse ich den Zug und blicke auf die monströse Skyline Frankfurts. Ab in die überfüllte Tram. An der Station vorm Römerplatz angekommen, ertönt eine Durchsage des Fahrers. Er wünscht uns im tiefsten hessisch eine schöne Demonstration. Gewohnt nett die Hessen. Erstmal durchschnaufen und wirken lassen. Ich sehe tausende Menschen. Jung und alt, schwarz und weiß, blau- und glatzköpfig. Wahrlich die oft beschriebene Mitte der Gesellschaft, die sich hier versammelt. Dennoch ist einiges an Platz frei, es ist schließlich noch eine halbe Stunde bis zum Beginn, weshalb ich mich Richtung Bühne bewege. Als ich einen festen Platz finde, hole ich mein Schild heraus. Nach einem Techno Music-Act (meiner Ansicht nach ausschließlich für die wenigen angereisten Berliner, die solche „Musik“ für gut befinden) beginnt dann die Kundgebung mit einem ordentlichen auf Neudeutsch beziehungsweise Englisch beschriebenen Banger. Der Oberbürgermeister von Frankfurt reißt mit seiner Eröffnungsrede die komplette Menschenmasse mit sich. Fast schon im kämpferisch rhetorischen Stile kritisiert er genau die, die eigentlich sonst in diesem Stil der Demokratie den Kampf ansagen. Schwungvoll, emotional und gestikulierend erzählt er davon, dass Frankfurt sich erhebe und die Demokratie verteidige, bunt und weltoffen sei und dass er in diesem Moment verdammt stolz sei, Frankfurter zu sein. Seine bockstarke Rede rundet er auch verdientermaßen mit einer Kritik an der Bundesregierung ab. Es sei nicht genug nur gegen die Opposition zu wettern, man müsse ihnen gar keine Angriffsfläche bieten, endlich in der Koalition zusammenhalten und sich nicht gegenseitig behindern. Volle Zustimmung.

Die Menschenmasse wächst immer mehr. Es wird verkündet, dass die gesamte Innenstadt voll sei und man nicht mehr versuchen solle, auf den Römer zu kommen. Man hatte aus der letzten Demonstration in Hamburg gelernt. Es folgen Redebeiträge von Repräsentanten verschiedener Migrationsgruppen, die betonen, dass die Angst einer erneuten Vertreibung oder gar einer gewaltsame Abschiebung real ist. Meine Gedanken sind bei meinen Mitschülerinnen und Mitschülern, die davon betroffen wären. Wie viel man verlieren würde, ganz zu schweigen von dem Schicksal der Individuen. Ein Kloß steckt mir im Hals. Meiner Forderung Ausdruck verleihend, strecke ich mein Schild immer weiter gen Himmel.

Halbzeit, eine kleine Pause. Hungrig schleiche ich mich zum Imbissladen und stoße dort auf eine Gruppe von Eintracht Frankfurt Fans. Prompt werde ich, aufgrund der Fanfreundschaft mit dem Verein, der meinen Schal ziert, Chemie Leipzig, zu einer Bratwurst eingeladen. Eine gewohnt sehr nette Geste, nicht umsonst sind unsere Fangruppen wegen ihrer ähnlichen politischen Ausrichtung befreundet und haben in der Vergangenheit schon öfter zusammengearbeitet. Bezeichnend. Eine Einstellung, die zahlreiche Kriege hätte verhindern können, wäre man dem Gegenüber einen Schritt entgegengekommen, anstatt aufzurüsten und Gräben zu errichten. Das gilt im Alltag sowie in der Weltpolitik und bezieht sich auf alle politischen Richtungen.

Die Veranstaltung neigt sich dem Ende zu und zwei Geistlichen gehört die Bühne. Es wundert mich ein wenig, dass ich fast der Einzige bin, der bei der Ankündigung der Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche ein wenig skeptisch ist. Die beiden (hier eine kirchliche Berufsbezeichnung einfügen) überraschen mich wiederum durch eine Solidarisierung mit der Queer-Community. A surprise to be sure – but a welcome one. Abschließend spricht der Gründer einer ganzen Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gegen nationalistisches Gedankengut zu arbeiten. Er erörtert mit einem juristischen Exkurs, wie die Demokratie ge- beziehungsweise zerstört werden könnte und wie man sie schützt. Planmäßig aufgelöst wird die Veranstaltung mit einem Blick nach Berlin. Dort wurde an ein Regierungsgebäude folgender Text projiziert: „Jetzt können wir erfahren, was wir anstelle unserer Großeltern machen würden.“ Als politik- und geschichtsinteressierter Mensch freue ich mich Teil davon zu sein. Hoffentlich kann ich meinem Kind mal sagen, damals 2024 die Demokratie gerettet und daraufhin mit gezielter Politik dafür gesorgt zu haben, dass es in einer besseren, einer weltoffeneren Welt aufwächst.